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- Deutsche Aktien: „Nach dem dritten Quartal werden wir klarer sehen“
- Deutsche Aktien befinden sich im Auge des Sturms, den der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat.
- Der Bewertungsabschlag gegenüber den USA ist so hoch wie nie , obwohl die Unternehmen operativ immer noch gut verdienen.
- Anlegern, die mit längerem Zeithorizont investieren, dürfte die derzeit niedrige Bewertung am deutschen Aktienmarkt gute Chancen bieten.
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Das erste Halbjahr verlief für Anleger enttäuschend wie lange nicht. Die massiven politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen haben deutliche Spuren an den Weltbörsen hinterlassen. Wird die zweite Jahreshälfte am deutschen Aktienmarkt ähnlich schwierig wie die erste? Oder sind die negativen Einflussfaktoren bereits weitgehend eingepreist?
Das kann man pauschal nicht sagen. Momentan befindet sich Deutschland im Auge des Sturms, weil die Wirtschaft von einem Stopp der Gaslieferungen aus Russland besonders betroffen wäre. Bei energieintensiven Unternehmen und solchen, die große Produktionsstätten in Deutschland und Europa unterhalten, hat der Markt schon ziemlich düstere Szenarien eingepreist. Beispielsweise wird der größte deutsche Chemiekonzern momentan zu seinem Buchwert [1] gehandelt, obwohl er eine stattliche Dividendenrendite aufweist. Solche Bewertungen beobachten wir typischerweise in einer schweren Rezession. Dahinter steckt die Sorge eines längeren Produktionsstopps, sollte Gas rationiert werden. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Regierung sich sehr pragmatisch um Lösungen bemüht und sie auch schon viel erreicht hat. So besteht die realistische Chance, dass wir bereits im Winter zwei schwimmende Flüssiggasterminals anlanden können. Außerdem ist fraglich, ob Russland es sich mangels Alternativen überhaupt leisten kann, Gaslieferungen nach Europa ganz einzustellen.
Was treibt Ihnen derzeit die größten Sorgenfalten auf die Stirn? Die Rezessionsgefahr in Europa oder den USA? Die hartnäckig hohe Inflation? Die Energiekrise? Unterbrochene Lieferketten? Oder der Mangel an Arbeitskräften?
Es ist der Cocktail aus den unterschiedlichen Einflussfaktoren, der die Situation derzeit so unübersichtlich und schwierig macht. Das Thema Gas wird uns kurzfristig sicherlich weiter beschäftigen. Mittel- bis langfristig dürften Inflation und eine mögliche Rezession in den Vordergrund rücken. Viele der heutigen Marktteilnehmer kennen Inflation nur aus Erzählungen, so dass ihre wirtschaftlichen Folgen möglicherweise unterschätzt werden. Meine Sorge ist, dass die Europäische Zentralbank zu lange mit Zinserhöhungen gewartet hat und nun umso stärker auf die Bremse treten muss. Und es drohen weitere Preisschocks, wenn man die Lieferkettenproblematik, den Personalmangel oder die Forderungen nach mehr Lohn bedenkt. Andererseits könnten verunsicherte Verbraucher und vorsichtigere Unternehmen ihre Konsum- und Investitionsausgaben zurückfahren, was die Inflation bremsen dürfte. Zudem kann ich mir ein Szenario vorstellen, in dem eine Rezession zwar mild verläuft, aber länger anhält, worauf wohl viele Marktteilnehmer ebenfalls nicht vorbereitet wären. Denn die letzten Konjunktureinbrüche im Zuge der Finanz- und Eurokrise sowie während der Pandemie waren zwar heftig, aber nur von kurzer Dauer.
Der Bewertungsabschlag deutscher Aktien gegenüber den USA ist mit rund 40 Prozent derzeit so hoch wie noch nie.
Deutschland sollte sich neue Märkte erschließen, etwa in Afrika.
Was bedeutet das für den deutschen Aktienmarkt?
Zum einen kommt es darauf an, wie stark Inflation und eine mögliche Rezession die Margen und damit die Gewinne der Unternehmen unter Druck setzen. Das werden wir spätestens nach dem dritten Quartal klarer sehen. Positiv ist, dass der Anleihemarkt dabei ist, ein Rezessionsszenario einzupreisen und die Zinsen nicht mehr weiter steigen dürften. Weil steigende Zinsen negativ auf die Bewertung am Aktienmarkt durchschlagen, könnten sich die Kurse auch hier stabilisieren . Einen Großteil der Bewertungsanpassung sollten wir schon hinter uns haben, wenn man berücksichtigt, dass der Abschlag gegenüber den USA mit rund 40 Prozent derzeit so groß ist wie noch nie.
Die Exportnation Deutschland hat im Mai erstmals seit 2008 Jahren mehr Güter eingeführt als ausgeführt [2]. Ist das ein Ausreißer oder Vorbote für den beginnenden Abstieg des Exportweltmeisters?
Aus den Daten der Handelsbilanz lässt sich kein Abstieg herauslesen. Der Export lief nach wie vor gut, auch wenn bestimmte Produktkategorien wie Kraftfahrzeuge unter Lieferengpässen gelitten haben. Verantwortlich für die negative Handelsbilanz waren die Importe, vor allem die teuren Energieeinfuhren. Öl und Gas werden auf den internationalen Märkten in Dollar gehandelt. Hier schlug also nicht nur der Preisanstieg durch, sondern zusätzlich auch der schwache Euro. Öl beispielsweise ist auf Dollarbasis derzeit etwa so teuer wie vor der russischen Invasion – wir müssen in Euro aber deutlich mehr zahlen. Zudem steigen bei bestimmten Vorprodukten die Importe, weil viele Firmen in Deutschland wegen Engpässen auf zusätzliche Lieferanten im Ausland ausgewichen sind.
Das Thema wirtschaftliche Abhängigkeit hat mit dem Ukraine-Krieg neue Brisanz erlangt. Muss Deutschland mit seinem Geschäftsmodell befürchten, durch die Tendenz zur Deglobalisierung ins Hintertreffen zu geraten?
Ich sehe nicht, dass die Globalisierung zurückgedreht und die Produktion, die viele Länder in den vergangenen Jahrzehnten ins Ausland verlagert haben, wieder zurückgeholt wird. Dass sich Unternehmen bei kritischen Lieferungen und Dienstleistungen breiter aufstellen, verlangt angesichts fragiler Lieferketten schon eine kaufmännische Vorsicht. Den weitgehenden Handelsstopp mit Russland kann die deutsche Wirtschaft angesichts des geringen Exportvolumens leicht verkraften. Was anderes wäre es, wenn Ähnliches mit China passieren würde. Das Land ist und bleibt als Absatzmarkt wichtig. Deutschland sollte zudem darauf achten, auch andere Märkte etwa in Afrika zu erschließen und das nicht allein China überlassen.
Unter den 100 größten börsennotierten Konzernen der Welt findet sich nach einer Erhebung der Prüfungs- und Beratungsorganisation EY mittlerweile kein deutsches Unternehmen mehr [3]. EY sieht besonders die schwache Aufstellung in der Technologiebranche als Grund. Sollte man vor diesem Hintergrund deutsche Aktien nicht eher untergewichten?
Hinter der Entwicklung steht in erster Linie die bereits erwähnte niedrige Bewertung deutscher Aktien, obwohl es operativ gut läuft. Unter normalen Umständen wären mit Sicherheit einige Firmen aus dem deutschen Aktienindex Dax unter den globalen Top 100 zu finden. Natürlich spielt auch die Struktur der deutschen Unternehmenslandschaft eine Rolle, in der sich hauptsächlich „alte“ Industrien und verarbeitendes Gewerbe findet. Diese Branchen sind generell niedriger bewertet. Aber mit den steigenden Zinsen, sollten auch die Kurse von Hightech-Firmen unter Druck geraten, die außerdem nicht immun gegenüber einem Wirtschaftsabschwung sind.
Blickt man nach vorne, hat sich Deutschland im Halbleiterbereich als gefragter Zulieferer bei Prozesstechnologien und Ausrüstung etabliert. Im Bereich Software hinken wir zwar noch hinterher, aber auch hier gibt es sogenannte Unicorns , also Neugründungen, die von Investoren mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Ich glaube, wir haben alle Fähigkeiten im Lande und das nötige Kapital, um die Lücke zum Silicon Valley zu verringern. Gerade das Web 3.0 [4] bietet Chancen für deutsche und europäische Industrien. Wir sind sehr gut darin Prozesse aufzusetzen, um den Maschinenbau zu digitalisieren und Roboter miteinander zu verknüpfen. In manchen Bereichen sind wir sogar heute schon führend [5]: Der größte Knotenpunkt für Know-how in der Luft- und Raumfahrt befindet sich nicht in Los Angeles, sondern in München. Wir müssen uns nicht verstecken.
Wo bietet der deutsche Aktienmarkt derzeit die besten Chancen? Eher in der ersten oder zweiten Reihe [6]? Und in welchen Branchen?
Derzeit würde ich vor allem den Bereich Gesundheitswesen favorisieren und denke dabei weniger an Pharma, als die Medizintechnik. Hier bietet nicht nur die erste Reihe einen Weltmarktführer, auch in der zweiten und dritten Reihe gibt es Unternehmen , die in ihren Nischen führend in der Welt sind. Die Bewertungen sind zwar teilweise noch anspruchsvoll, auch wenn sie zuletzt zurückgekommen sind. Die Zukunftsaussichten beurteile ich sehr positiv. Den Halbleiterbereich hatte ich bereits angesprochen. Ich finde es interessant, dass der weltgrößte Chiphersteller aus den USA in Magdeburg ein neues Werk baut, und auch ein Chipfertiger aus Taiwan wird möglicherweise in Ostdeutschland ansässig. Davon könnten zahlreiche Zulieferer profitieren. Denken Sie an den Goldrausch in Kalifornien: Dort wurden auch in erster Linie die Verkäufer von Schaufeln und Spitzhacken reich, während nur wenige Goldschürfer einen großen Fund machten.
Im Bereich Medizintechnik finden sich in der zweiten und dritten Reihe Unternehmen, die in ihren Nischen führend in der Welt sind.
Welche Rolle spielt der schwache Euro, der erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder genauso viel wert ist wie ein Dollar?
Ich schaue eigentlich nicht auf den Dollar. Das ist ein klassischer Reflex der Börse, im Glauben, eine schwache Währung sei gut für den Export. Das stimmt nicht. Langfristig ist kein Zusammenhang zwischen Währungsentwicklung und Exportvolumen zu erkennen . Die Ausfuhren hängen in erster Linie an der Entwicklung des internationalen Handels, das hat sich etwa während der Finanzkrise und der Coronapandemie gezeigt. Hinzu kommt, dass die wesentlichen Produkte mit hoher Wertschöpfung kaum preissensitiv sind. Anders ausgedrückt: Die Wettbewerber befinden sich meist in Ländern wie Italien, der Schweiz oder Japan mit der gleichen oder ähnlichen Währungssituation.
Oft heißt es, Krisenzeiten seien gute Zeiten, um am Aktienmarkt zu investieren. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?
Auf alle Fälle . Wir müssen uns aber von der Vorstellung verabschieden, dass die Aktienmärkte wie beispielsweise zu Beginn der Coronapandemie eine V-förmige Erholung durchlaufen, also auf einen schnellen Absturz, ein schneller Wiederaufstieg folgt. Es könnte diesmal etwas zäher werden. Nach dem Platzen der Internet-Blase Anfang des Jahrtausends hat es rund sieben Jahre gedauert, bis die Märkte die alten Höchststände wieder erreicht haben, nach der Finanzkrise waren es immerhin noch fünf Jahre. Wer also einen etwas längeren Zeithorizont mitbringt und kontinuierlich investiert, sollte auch diesmal mit Renditechancen rechnen können. Und man darf nicht vergessen, dass es auch positive Überraschungen geben kann: Sollte Russland den Krieg plötzlich beenden, dürfte der Dax einen Sprung nach oben machen.
Zur Person
Hansjörg Pack stieß 1997 nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre als Trainee zur Deutschen Bank, wo er zuletzt in der Vermögensverwaltung tätig war. Im Jahr 2000 holte ihn Klaus Kaldemorgen zur DWS. In dessen Team war er zunächst für asiatische und globale Aktien zuständig und wechselte 2009 ins Deutschlandteam. Das Management des Fonds DWS Aktien Strategie Deutschland verantwortet er seit 2018.