- Home »
- Informieren »
- Anlagethemen »
- Aktien »
- Stagflation? Was heute anders ist als in den 1970ern
Lesezeit
Zugegeben: Sich momentan die Nachrichten zu Gemüte zu führen, trägt nicht unbedingt zur Erhebung desselbigen bei. Im September kletterte die Inflationsrate[1] in Deutschland erstmals seit 30 Jahren wieder über die Vier-Prozent-Marke[2]. Die Preise für Diesel, Lebensmittel oder Energie schießen in die Höhe, wie der Spargel im Mai. Allein der durchschnittliche Gaspreis in Europa hat sich seit Anfang 2021 versechsfacht[3].
Die Preise schießen nach oben
Zu der ungewohnt schnellen Verteuerung von Waren und Dienstleistungen gesellt sich ein weiterer Störfaktor: die Abkühlung der Weltwirtschaft. Weil Vorprodukte fehlen, kündigen Industrieunternehmen wie die Automobilbranche an, ihre Produktion zu senken. Da mag sich mancher in die wilden Siebziger zurückversetzt fühlen. Damals hat die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) die Ölförderung gekürzt und so die legendäre Ölpreiskrise ausgelöst. „Stagflation“ nennt sich das Phänomen. Es beschreibt wortwörtlich das Zusammentreffen einer hohen Inflationsrate mit einem nachlassenden oder geringen Konjunkturwachstum.
Was ist Stagflation?
Stagflation ist ein Kofferwort. Sie beschreibt das gleichzeitige Auftreten von wirtschaftlicher Stagnation, hervorgerufen durch zunehmende Arbeitslosigkeit, und steigender Inflation, hohen Preissteigerungsraten. In den 1970er Jahren führte die Ölpreiskrise zu diesem Phänomen.
Steuern wir auf eine neue Stagflation zu? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Gegebenheiten der Ölpreiskrise in den 1970er Jahren etwas genauer betrachten: Auch damals stieg die Inflationsrate – hervorgerufen durch den Ölpreisschock – auf über vier Prozent und verharrte sieben Jahre lang auf diesem Niveau. Zusätzlich stimuliert wurde die Situation von sehr hohen Lohnabschlüssen, die im Widerspruch zum schwachen Produktivitätswachstum standen.
Erschwerend hinzu kam damals: Die Löhne schraubten sich aufgrund der anhaltenden Inflationserwartungen immer weiter nach oben. Zudem stiegen die Nominalzinsen stark. Die Renditen von öffentlichen Anleihen lagen bei durchschnittlich zehn Prozent. Schön für Rentensparer, schlecht für die Aktienmärkte – und damit für die Realwirtschaft.
Die Folgen finden wir in den Geschichtsbüchern. Die Ölkrise bescherte Deutschland nicht nur vier autofreie Sonntage, sondern auch eine der schwersten wirtschaftlichen Rezessionen, steigende Arbeitslosigkeit und eine anhaltend negative Wertentwicklung der Aktienmärkte.
Von diesem Szenario sind wir heute weit entfernt. Während die weltweite Arbeitslosigkeit sinkt, erholte sich die Wirtschaft nach der Coronapandemie im Frühjahr und Sommer schneller, als die meisten das erwartet hätten. Daher rührt auch der derzeitige starke Preisanstieg.
„Die hohen Preise signalisieren, wo Güter knapp sind und lenken die Produktion dorthin“, beschreibt Martin Moryson, DWS Chef-Volkswirt für Europa, die Lage. „Wenn die Weltwirtschaft wieder rund läuft, dürfte auch der Preisdruck nachlassen.“
Der größte Unterschied zur Ölpreiskrise vor 50 Jahren sind die derzeit vergleichsweise moderaten Lohnabschlüsse in Deutschland. Sie vermindern die Gefahr einer erneuten Lohn-Preis-Spirale.
Kein Grund zur Sorge also?
Anlass zur totalen Sorglosigkeit sei dennoch nicht gegeben. „Es existieren schon einige Risiken in der Weltwirtschaft, die wir kritisch beobachten“, meint Moryson. „Dazu zählen beispielsweise die Turbulenzen an den Energiemärkten und die derzeitigen Entwicklungen in China“. Dort fallen – wie auch in den Vereinigten Staaten – die aktuellen Wirtschaftsdaten eher dürftig aus. Gleichzeitig nimmt die Sorge vor einer Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus wieder zu.
Auch Notenbanker wie Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), sehen die momentane Entwicklung gelassen bis zuversichtlich. Sie halten sie für eine vorübergehende Erscheinung und bauen darauf, dass durch ein beherztes, rechtzeitiges Eingreifen in Fiskal- und Geldpolitik die wirtschaftliche Erholung wieder Fahrt aufnehmen wird.
„Ich glaube nicht, dass wir auf eine Stagflation zusteuern werden.“
Christine Lagarde, Chefin der europäischen Zentralbank
Erste Anstrengungen machen bereits die Runde: Christine Lagarde appelliert zum Beispiel vehement für die konsequente Stützung des Arbeitsmarkts. Der solle wieder das Niveau von 2019 erreichen, als es noch zwei Millionen Arbeitslose weniger gab. „Wenn dies das Endergebnis dieser Erholung ist“, so die EZB-Chefin, „dann glaube ich nicht, dass wir auf eine Stagflation zusteuern werden.“
Oder anders gesagt: Vor dem Schreckgespenst der Siebziger sollten wir uns heute nicht mehr verrückt machen lassen.